über mich

Eine unvollendete Geschichte, zwei Hände voll gestrandeter Wesen und ein Muster aus 'bad girls', welches mir das Leben gerettet hat.

I. Ereignisse

1. Das Mädchen (ich) sitzt in der Schule. Sie langweilt sich und denkt über die Pause nach. Wie wird sie es am besten anstellen? Verträumt starrt sie aus dem Fenster, während der Lehrer unverständlich über Geozonen und globale Erwärmung philosophiert. Über ihre Augen zieht sich dieser bestimme Schleier, diese dünne Grau-Schicht, die bedeutet, dass sie in diesem Moment weit weg ist.
Während alle anderen gespannt dem monotonen Klang des Lehrers lauschen, bekommt das Mädchen nichts mehr mit. Sie fühlt sich betrunken von der Trauer, die sich wie Ranken um sie geschlungen hat und nicht mehr los lässt, träumt vom Tod, davon schwerelos zu sein.
Obwohl sie umgeben von den anderen Schülern ist, fühlt sie sich doch einsam.
Erst als ein Junge mit der Hand vor ihrem Gesicht herum wedelt, kommt sie langsam wieder zurück auf die Erde.
Verwirrt schaut sie sich im Klassenzimmer um, die ockerfarbenen Wände, das Chaos, all das kommt ihr bekannt vor.
Doch als sie in die lachenden Gesichter ihrer Mitschüler schaut, wünscht sie sich, ganz zu verschwinden, für immer und ewig.

2. Die ganze Nacht hat sie kein Auge zu getan, denn immer wenn sie versucht hatte, ein zu schlafen, musste sie daran denken, wie hilflos man im Schlaf war und so kam es, dass sie die ganze Nacht weinend in ihrem Bett gesessen hatte. Ein Blick auf ihren Wecker, 6:43, zeigt ihr, dass es gleich Zeit ist, in die Schule zu gehen.
Um sich zu entspannen, schließt sie die Augen, hört das Blut rauschen, sanft, wie Wellenschläge. Verliert sich in diesem Rauschen, sie merkt gar nicht, dass es immer lauter wird, kneift die Augen immer fester zusammen, bis es ihr schließlich so weh tut, dass sie keuchend die Lider aufschlägt.
>> Aufstehen, es ist so weit, gleich wirst du zurück in die Hölle verbannt. <<
Früher oder später äußert sie sich immer.
Sie, die alles kaputt macht, wie ein Mähdrescher der jeden Grashalm, jeden Funken der Hoffnung einfach vernichtet, eliminiert, abtötet.
>> Haha, zurück in die Hölle, die Hölle. Weißt du, warum du in die Hölle musst? <<
Ihre Stimme ist glockenhell und klar, manchmal ist sich das Mädchen nicht sicher, ob die Stimme spricht oder singt.
>> Weil du ein schlechter Mensch bist, Miststück! <<
Alles, was das Mädchen dagegen tut, ist beten. Also steht sie auf, kniet sich vor dem Fenster nieder und murmelt leise die Worte vor sich hin, die sie jeden Morgen von neuem spricht.
„Bitte, liebes Etwas, welches mir helfen kann, lass mich den Tag überstehen.“
Und in ihren großen braunen Augen brennt das Feuer der Hoffnung.

3. Das Mädchen sitzt in der S-Bahn. Sie ist weihnachtlich dekoriert. Blaue Wände, Christbaumkugeln, Tannenzweige, Lametta. Erwachsene trinken Glühwein, Weihnachtsmänner gehen umher und schenken kleinen Kindern Schokolade. Ab und zu gehen als Weihnachtswichtel verkleidete Jungen herum, sammeln Geld.
Mittendrin, in all dem Wirrwarr aus Rot und Grün und Weiß sitzt das Mädchen, sie zittert, hält eine kleine Handtasche in den Händen. Sie lehnt den Kopf gegen die kühle Scheibe, knabbert an den Fingernägeln. Nachdem sie ängstlich auf die Uhr geschaut hat, wird sie nervös, wippt mit dem Fuß, reißt die Haut von ihren Fingerkuppen hinunter, so doll, dass es blutet. Endlich kommt der Zug zum Stehen, sie steht auf und drängt sich durch die Menschenmengen, rennt und rennt. Ihre Eltern wissen von all dem nichts, vielleicht wäre es besser gewesen, sie nicht an zu lügen.

4. Starbucks. In der oberen Etage kann man bequem sitzen. Kleine Tische, Sessel und Sofas. Die Wände sind in warmen Brauntönen gehalten. Die Leute dort arbeiten an ihren mitgebrachten Notebooks oder sie sind in ihre Zeitungen vertieft. Der Kaffee schmeckt ihr nicht, sie ist einzig und allein wegen der Sitzmöglichkeiten da.
Wie es ihr geht, was sie heute noch vorhaben, solche Sachen wird sie gefragt. Lächelnd und ruhig beantwortet sie alle Fragen, mit einer distanzierten Sachlichkeit und diesen Rede-Stil behält sie auch, als die anderen auf die schrecklichen Dinge zu sprechen kommen. Die Dinge, über die man mit niemandem sprechen sollte, die Dinge, die dunkel und vernichtend sind, die Dinge, wegen denen sie heute zu diesem Zeitpunkt zusammen gekommen sind.

5. Nachdem sie aufgestanden ist, wiegt sie sich als erstes. Verblüfft von der Zahl, die heute auf der Anzeige zu sehen ist, geht sie ins Badezimmer und wäscht sich. Wie immer zieht sie sich an, schminkt sie sich, liest ein bisschen in ihrem neuen Buch, obwohl heute alles anders ist.
In der Wohnung herrscht Totenstille, nur ihr Atem ist laut und rasselnd.
Sie weiß, dass heute kein normaler Tag ist, die Wohnung ist leer, ihre Eltern befinden sich auf einem Flohmarkt.
Jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück, denn sie ist alleine.

6. >>Papa, ich habe Angst. <<
Piep.
Zusammengerollt wie eine kleine Kugel, undurchdringbar, sicher, liegt sie auf dem Boden, zitternd, mit dem Telefon in der Hand.
Das Mädchen liegt dort wartend, doch auf einmal steigt sie zur Decke auf, immer höher.
Schaut auf sich selbst hinunter, sieht diesem wehrlosen Geschöpf beim sterben zu.

II Personen

1. Das Mädchen ist eins siebenundachtzig groß, sie überragt die anderen Mädchen ihrer Klasse. In der Schule ist sie überdurchschnittlich gut, lernt schnell, ist manchmal ein bisschen zu sehr verträumt. Während der Pausen zieht sie sich zurück, hört Musik oder sie scherzt mit Gleichaltrigen, Freundinnen. Sie ist ein bisschen autoritär und launisch, doch das kommt in ihrer Altersklasse nicht selten vor. Auch wenn sie sich anpasst, versucht sie doch verzweifelt sich von den anderen ab zu sondern. Sie trägt andere Kleidung, hört andere Musik, interessiert sich für andere Themen und trotzdem bleibt sie eine von ihnen. Ein normales jugendliches Mädchen, denken Außenstehende von ihr. Doch wer einmal einen Blick hinter ihre Fassade wirft, sieht alles anders. Da ist auf der einen Seite das intelligente, frühreife und launische Mädchen, mit den großen braunen Augen, den mittellangen dunkelblonden Haaren, dem schwarzen Lidstrich, den hohen Wangenknochen und auf der anderen Seite das verzweifelte, verängstigte und lebensmüde Wesen, dass einen Hang für Morbiditäten hat und immerzu versucht, sich selbst zu zerstören. Wer einmal wahr nimmt, wie es ihr wirklich geht, wie sie wirklich tickt, vergleicht sie nicht mehr mit normalen Gleichaltrigen sondern mit einer Zeitbombe, die jeden Moment in die Luft fliegen kann.

2. Die Mutter. Hatte keine schöne Kindheit, der Vater war Alkoholiker, niemand hat sich darum geschert, alle haben das nur peinlich berührt vertuscht. Versuchte sich verzweifelt gegen das System auf zu lehnen. Arbeitet als Buchhalterin in einem Büro, verdient gut. Pflegt ihre Freundschaften und sozialen Kontakte. Arbeitet manchmal zu viel, wird dann depressiv und ist so erschöpft, dass sie unfähig ist, sich um den Haushalt zu kümmern. Diese Frau, mit dunklem Haar, hat immer einen leidenden Gesichtsaudruck. Als hätte ihr irgendwann mal jemand hängende Mundwinkel ins Gesicht gemeißelt, ihre Augen mit einem blassen Schimmer belegt. Spricht Themen direkt an, redet nicht lange um den heißen Brei herum. Schwieriger Sinn für Humor, bleibt meistens ernst. Versucht verzweifelt zu retten, was nicht mehr zu retten ist.

3. Der Vater. Nah am Wasser gebaut, sehr emotional. Überspielt Unsicherheit mit Ironie und Sarkasmus. Wurde als kleiner Junge oft vom Vater geschlagen, doch das war damals normal. Trotzdem haben diese Ereignisse ihn geprägt, es erschreckt ihn immer noch, wie kalt und herzlos sein Vater manchmal zu ihm war. Trägt nur dunkle Farben. Blonde Haare, durchzogen von weißen Fäden, blaugraue Augen. Arbeitet hart als Kameramann. Anders als die meisten seiner Generation, die mit Computern nichts anfangen können (oder wollen), ist er ein technisches Genie. Seine Stimmung ist wie Ebbe und Flut. Möchte trotz allem immer das Beste für die Familie. Was ist das Beste?

4. Nike. Sechzehn Jahre jung, blonde lange Haare. Das Herz voller Angst, den Kopf voller Angst. Eine Hülle gefüllt mit Angst, Hass und Trauer, sagt sie. Nike’s Leben ist eine Wanderung durch steiniges Gebirge. Sie zwingt sich, weiter zu gehen. Rutscht schon bei dem kleinsten Misserfolg ab, hält sich aber im letzten Moment an einer Klippe fest. Zieht sich wieder hoch, denn da ist noch der dünne Faden mit dem Namen Wille, der sie umschlungen hat. Sie merkt jedoch, dass etwas nicht stimmt, bekommt Angst. Betäubt von diesem Gefühl des Wertlos-Sein, quält sie sich langsam weiter. Da sind doch noch Dinge, die zu leben lohnen. Doch früher oder später regnet es Gewissheit über sie. Gewissheit, dass es so nicht weiter gehen kann, dass das alles ein endloser Alptraum ist, sie langsam anfängt, auszutrocknen, vor Angst und Scham und schlechten Gefühlen. Vor all dem negativen, dass ihr den Willen und den Mut entzieht. Also trinkt sie Gewissheit, denn ohne Flüssigkeit überlebt man nicht lange. Zudem kommt, dass die Gewissheit so verführerisch glitzert, sie ist ein Ausweg, ein einfacher schneller Ausweg. Doch Gewissheit macht schwer, sorgt dafür, dass Nike anfängt zu zweifeln. Und wenn sie das nächste Mal abrutscht und am Abhang baumelt, lässt sie los. Kann sich nicht mehr festhalten, denn Gewissheit macht schwer.

5. Soléa. Beste Freundin des Mädchens. Blonde, lange Locken, grüne Augen, dichte, lange Wimpern, zierlich. Soléa sieht aus wie ein kindlicher Engel. Bleibt immer freundlich, sehr beliebt. Hat Probleme, ihren Willen durchzusetzen, widerspricht nicht gerne. Wird von den meisten Leuten in die Kategorie Nett, friedlich, lieb gesteckt. Wenn das Mädchen an Soléa denkt, kommt ihr immer wieder diese eine Szene in den Kopf. Wie sie, als sie noch klein waren, im Kindergarten standen und es auf einmal anfing, zu hageln. Soléa fing an zu weinen, die Hagelkörner waren zwar nur klein, aber sie schlugen hart auf der blassen Haut der kleinen, dünnen Soléa auf. Das Mädchen drängte sie unter das kleine Stück unter der Dachrinne, dort war man geschützt, und stellte sich schützend davor, die Arme ausgebreitet. Soléa strahlte mich an und ich war glücklich. Obwohl der Hagel wie kleine Kanonenkugeln auf meinen Kopf und meinen Körper niederschoss, war ich glücklich.    

III Weltereignisse

Keine

IV Menschen und Umstände, die zu meinen Taten beigetragen haben

Keine

V Altona/Othmarschen

Familiengegend. Die Menschen, die dort leben, gehören zur Mittelschicht. Manche sind sogar wohlhabend. Große Häuser, vier stockig, bis zu acht Familien in einem Haus. Die, die es sich leisten können, belegen eine ganze Etage. Große Gärten, gepflegter Rasen, kleine Kinder spielen in den Sandkästen, im Hochsommer plantschen sie in einem kleinen Swimming Pool. Wenn man die Hauptstraße, eine lange Allee mit Kopfsteinpflaster und gesunden Bäumen entlang geht, kommt man in einen Park, nicht besonders groß, mit einem schönen Spielplatz, einem Teich mit Enten, morgens sieht man die Mütter und Väter dort joggen. Dort, an der Hauptstraße liegt auch das Kinderkrankenhaus, doch das stört niemanden. Es bleibt trotzdem ruhig, denn die Häuser liegen nicht direkt an der Hauptstraße, sie stehen in kleinen Nebenstraßen, so dass niemand von dem Lärm der Krankenwagen belästigt wird. Diese Gegend, fern von Gut und Böse, ist eine grüne Idylle. Die Nachbarn gehen freundlich mit einander um, sind teilweise sogar gut befreundet, schicken ihre Kinder in den gleichen Kindergarten, in die gleiche Grundschule. In dem Haus, in dem das Mädchen lebt, wohnen jüngere und ältere Kinder mit ihren Eltern. Freundschaften wurden geschlossen, die Jugendlichen hängen besonders aneinander. Sie kennen sich schon lange, auch wenn sie auf unterschiedliche Schulen gehen, ist der Kontakt da. Anständige Jugendliche, aus denen mal etwas wird, hilfsbereit, intelligent, fröhlich und humorvoll, wie sie sind. Wenn nicht das Mädchen in diesem Haus wohnen würde, könnte es den Anschein erwecken, alles wäre perfekt. Wenn das Mädchen im Bett liegt, kann sie die obere Familie hören. Sie hört, wie der Vater dem Kind etwas vorsingt, hört wie die Mutter fangen spielt. Ob sie das Mädchen hören können? Noch nie haben sie sich beschwert, dass es zu laut ist. Doch selbst wenn du im Treppenhaus stehst, kannst du hören, wie das Mädchen ausflippt. Wie sie die Musik bis zum Anschlag aufdreht, schreit, die Tür knallt. Dann hsyterisch in Tränen ausbricht, ihre Sachen an die Wand wirft, mit der Faust gegen die Wand schlägt. All das könnten ihre Nachbarn hören, wenn sie wollten. Das schlimmste, das, was nach den Anfällen kommt, kann jedoch niemand hören, außer ihr selbst. Wie sie leise auf dem Boden liegt, panisch versucht, ihr Zucken und Schluchzen zu unterdrücken. Seltsame Laute kommen aus ihrem Mund, wenn sie verzweifelt versucht, die Lippen auf einander zu pressen. Und dann wird es ganz still um sie. In solchen Momenten ist der Druck, der auf ihr lastet, so unendlich stark. In solchen Momenten fängt sie an, sich zu kratzen, so heftig, dass es blutet, an dem Armen, an den Beinen, sogar im Gesicht. Dabei wiegt sie sich langsam hin und her, rhythmisch, weinend. In solchen Momenten ist sie so weit weg, dass sie den Sinn für die Realität für ein paar Minuten vergisst. Wird sie irgendwann endlich jemand hören können?

VI KJPP, Harburg

Die Kinder-und Jugenpsychiatrie Harburg sieht von außen aus, wie eine Art Wohnheim, vielleicht sogar eine Jugendherberge. Bis man die Schilder sieht, auf denen der Name dieses ganz besonderen Wohnheim steht. Etwa 32 stationäre Patienten umfasst es, brav aufgeteilt auf vier Stationen mit den Namen „Geschlossene Kinder-und Jugendstation“, „Offene Kinderstation“, „Offene Jugendstation“ und „Tagesklinik“. Große, Räume, helle Farben, aber keine Ecken und Kanten. Das Zimmer des Mädchens ist aufgeräumt, die Regale stehen voll mit Büchern. Nichts leichter als das, Der Name der Rose, The Absolutely True Diary of a Part-Time Indian, ES, Kartoffelkäferzeiten, Bad Girls… Unter ihrer Ablage liegen ihre Listen, Pläne, was sie noch zu tun hat. Wird sie alle Aufgaben erfüllen können? Oder wird sie vorher zusammenbrechen, kapitulieren? Ist das überhaupt möglich, hier, in ihrem Zimmer, auf der offenen Kinderstation in Harburg? Hier, wo dich immer jemand hört, wo sie schon angerannt kommen, wenn dir ein paar Tränen über die Wangen laufen.

VII Ereignisse

1. Das Mädchen zittert und weint. Was hatte sie diesem Tier getan, warum hatte es versucht, sie zu beißen? In ihrem Kopf spielte sich wieder und wieder diese Szene ab, wie sie vom Strand fröhlich den Berg hinauf gerannt war, zurück zum Appartement. Den Rucksack über die Schulter geworfen, nasse Haare, in ihrem geliebten blauen Bikini. Der Weg war steinig, oben sehr steil, es war anstrengend, nach oben zu laufen. Sie könnte auch gehen, wenn sie wollte, aber nein, sie wollte laufen. Rechts war ein kleines Stück Wiese, eine Ziege kletterte einen Stein hoch, stellte sich in die Sonne, im Hintergrund die Bäume. Dieses Bild sah aus wie das Motiv einer Kitsch-Postkarte. Endlich war oben angekommen, erschöpft, stützte sich gegen einen Stein um Luft zu holen. Und auf einmal war er da. Bellend schoss er auf sie zu, die Zähne gefletscht. Das Mädchen packte reflexartig ihre Sachen, rannte quer über den staubigen Parkplatz. Ihre Füße taten weh, der Boden hatte sich im Sonnenlicht in eine glühende Steinwüste verwandelt. Noch nie hatte sie solche Panik gehabt, noch nie war sie so schnell gelaufen. Der Hund, dieses kleine weiße Etwas, lief ihr hinterher, versuchte nach ihr zu schnappen. Das Mädchen konnte nicht klar denken, flüchtete an den Olivenbäumen vorbei, zur Tür, stemmte sie mit letzter Kraft auf, drehte den Schlüssel ins Schloss, knallte sie zu, machte dicht, verschloss alles. Keuchend schmiss sie sich auf’s Bett, die Tränen liefen ihr wie dicke, fette Regentropfen von den Wangen. Krokodilstränen.  
Sofort packte sie sich eine der hauchdünnen Decken, wickelte sich ein, verkroch sich, hörte immer wieder das Bellen des Hundes in ihren Ohren. Alles hatte sie abgeschlossen in ihrer Not, solche Angst hatte sie gehabt. An dieser Tag, diesem wunderschönen Ferientag auf Kreta, mit Hitze, Meer und allem, was ein perfekter Urlaub braucht, hatte das Mädchen das erste Mal Angst gehabt, zu sterben. Diese Angst wollte sie nie, nie wieder haben, diese dunkle Panik vor dem Tod, also verschloss sie sich, damit das alles nie wieder vorkommen würde. Was hatte sie getan? War sie so ekelhaft und grausam?

2. Schule. Pause, dort, mitten auf dem Schulhof steht das Mädchen, kaut an den Fingernägeln herum, tritt nervös von einem Bein auf das andere. Immer ist sie nervös, fängt dann an, hibbelig zu werden. Es ist eiskalt, man kann den silbrigen Rauch sehen, wenn man ausatmet. Scharf zieht sie die Luft ein, als würde sie rauchen. Keucht, hält sich die Ohren zu, so kalt ist es. In Chucks steht sie dort, bei Minus-Temperaturen. Was ihr Vater wohl sagen würde, wenn er sie so sehen würde? Er würde sie sicher ausschimpfen, so leichtsinnig wie sie war. Eine Erkältung würde sie sich hohlen, richtig krank werden. Sie schmunzelt, als sie daran denkt. Eine Gruppe Schüler zieht an ihr vorbei, fragt sie, ob sie Lust hat, mit in die Cafeteria zu kommen. Ihr Kopf erlaubt es ihr, will sie auf die Probe stellen, also setzen sich ihre Beine in Bewegung. Die Mundwinkel zum lächeln verzerrt, hört sie zu, was die anderen so sprechen, während sie langsam auf die Treppe zu steuern. Sie steigt die Treppen herunter, ihre Augen tränen vor Kälte. Geht durch den Eingang und sofort steigt ihr dieser süßliche, vertraute Geruch in die Nase. Kontrolle ist alles, an das sie denken kann. Ihre Freunde stellen sich vorne an, ob sie auch etwas will, fragen sie. Beschämt wirft sie einen Blick auf die Auslage. Schokobrötchen, Käsestangen, Donuts starren sie an. Dem Mädchen wird übel, seit Anfang des Tages hat sie nichts zu sich genommen. Entschuldigt mich, ich habe zu tun. Das ruft sie, als sie aus der Cafeteria stürzt, los rennt. Rennt, bis ihr die Beine wehtun, rennt bis sie vor der Mädchentoilette steht. Sie haben ihr Ziel erreicht. Betont langsam geht sie in hinein. Die Toiletten sind hässlich, an den weißen Fliesen erkennt man noch die Überreste von Edding-Kritzeleien, die Kabinen sind klein, eng, es riecht nach Desinfektionsmittel, Abgestandenem und Lippenstift. Sie beugt sich über den Rand der schwarzen Klobrille, steckt den Finger in den Hals, würgt. Doch alles, was ihr Körper heraus gibt, ist Galle. Ihre Augen tränen wie verrückt, doch trotzdem erbricht sie weiter. Versucht, jegliche Flüssigkeit aus ihrem Körper zu spucken, langsam verfärbt sich das Wasser rot. Aus ihrem Hals kommen immer seltsamere Laute, schnell und kurz, wie ein Schluchzen. Galle für die gesamte Vergangenheit, die nicht mehr aus zu radieren ist.

3. Sie ist bei Soléa zu Hause, schläft direkt neben ihr auf einer Matratze. Im letzten Moment hatte das Mädchen bei ihr angerufen, zusammen gekauert saß sie dort im Bad, zwischen der Toilette und dem Trockner. Sie hatte Soléa’s Telefonnummer auswendig gewusst, gefleht, bei ihr übernachten zu dürfen. Hatte ihre Schulsachen gepackt und war zu Soléa geflüchtet. Und geweint hatte sie, wie konnte es passieren, dass sie wieder so ausgerastet war, dass sie fast wieder in die Psychiatrie gekommen war. Sie hätte es ahnen müssen, solche Sachen passierten nur dann, wenn ihr Vater nicht da war. Solche Situationen waren ihr so vertraut und doch überraschte es sie immer wieder, wie ahnungslos sie gewesen war.

4. Ihr Handgelenk blutete, es brannte wie Feuer. Sie warf einen kurzen Blick zu ihrer Zimmernachbarin herüber. Ob sie freundlich ist? Das würde sie morgen erfahren. Das Bett des Mädchens ist hart, sie kann nicht schlafen. Es war ihr peinlich, was mit ihr passiert war. Sie hatte sich wie ein Kleinkind benommen, um sich geschlagen, geschrieen. Erst als ihr Mutter mit der Polizei drohte, hatte sie nachgegeben, war mit gesenktem Kopf ins Auto gestiegen, hatte ihre Fahrt ins Ungewisse angetreten, ihre Fahrt in den Käfig.

5. Ich sitze in der Klinikschule, schreibe, lese ab und zu in ‚bad girls’, dem Buch, dass mich zu diesem Aufsatz inspiriert hat. Das dritte Mal befinde ich mich in der Psychiatrie, auf der offenen Kinderstation der Kinder-und Jugendpsychiatrie Harburg. Vor circa 1 ½ Jahren war ich das erste Mal dort, für 12 Tage, auf der geschlossenen Station, ein halbes Jahr später ein zweites Mal, 14 Tage, ebenfalls Geschlossene. 70 Tage bin ich nun da, es tut sich nichts. Meine Lehrerin Fr. Stiefenson ermahnt mich, ich schreibe nun schon so lange an diesem Aufsatz, tue nichts mehr für die normale Schule. Warum sollte ich etwas für die Schule machen? Werde ich je dahin zurückkehren? Lieber schreibe ich meine Geschichte auf, sieben Seiten habe ich nun zusammen, so viel ist in meinem Kopf, alles will später auf Papier stehen, schön abgeheftet in meinem orange-roten Ordner. Ich würde gerne genauer über meine ersten Klinikaufenthalte schreiben, über meine verzweifelten Versuche, mir die Arme auf zu schneiden, über meine Schulzeit, die Streitereien mit meiner Schwester. Während ich all das schreibe, merke ich, dass es nur ein billiger Abklatsch der Geschichte in ‚bad girls’ ist, aber das hier ist echt, das hier ist passiert, dass hier ist mein Leben.

VIII Personen

1. Das Mädchen fängt an, schweigsam zu werden, verschlossen. Alltägliche Dinge werden zum Problem, ihre Bedürfnisse schraubt sie zurück. Das Essen muss sie hinein würgen, am liebsten würde sie sich danach erbrechen, Aktivitäten machen ihr nur Spaß, wenn dabei nicht viel gesprochen wird. In manchen Situationen lässt sie sich fallen, kuckt einfach, was dann passiert, doch im Nachhinein ermahnt sie sich. Es ist, als wäre sie eine Maschine, mechanisch bewegt sie ihre Beine, ihre Arme, spricht, lächelt. Doch in Gedanken ist sie woanders. Nicht in dieser Psychiatrie, nicht zu Hause. Einfach eingesponnen in ihr Kokon aus Gedanken. Eingewickelt in süßliche Stimmen, die jedoch keine guten Absichten haben, Kontrolle über sie ausüben. Das Mädchen kann sich nicht wehren, die Stimmen sind ein Teil von ihr, den sie nicht verraten will. Sie merkt gar nicht wie sie fällt und sich verliert.

2. Die Mutter besucht sie, so oft sie kann, wäscht ihre schmutzigen Sachen, bringt Süßes mit, bemüht sich um ein freundliches Lächeln. Gibt die Hoffnung nicht auf, nein, ihre Tochter wird das schon schaffen, dieses Mädchen, das so einen starken Willen hat, das ein glückliches, erfolgreiches Leben führen kann, wenn sie es will. Wenn sie es will…

3. Der Vater arbeitet. Es tut ihm leid, aber das Geld fällt nicht einfach so vom Himmel. Es macht ihn traurig, dass er nicht zu jeder Besuchszeit da sein kann. Am liebsten wäre es ihm, wenn sie einfach nach Hause kommen würde, so sehr vermisst er sie. Er hat Schuldgefühle, fragt sich, wie es kommen konnte, dass es seinem Kind so schlecht geht. Hat er Schuld daran? Wenn er sie anders erzogen hätte, wäre sie dann vielleicht nicht so geworden? Was wäre passiert, wenn sie ihn nicht angerufen hätte? Wäre sie dann womöglich tot?

4. Nike geht es nicht gut, eigentlich ging es ihr schon lange nicht gut, aber nun ist es besonders schlimm. Sie bekommt Angst vor Menschen, möchte nicht mehr Bahn fahren. Ihre Freundin, das Mädchen, ist in der Psychiatrie. Nike versucht ihr zu helfen, schreibt Briefe und Sms. Doch noch größer als Nikes Sorgen um das Mädchen, sind die Sorgen des Mädchens um Nike. So viele schreckliche Dinge, sie möchte Nike nicht enttäuschen, möchte sie nicht verletzen, möchte sie nicht belasten. Das Mädchen würde alles dafür tun, dass Nike wieder lächeln kann.

5. Soléa ist da. Ist da, nachdem das Mädchen auf die geschlossene Station verlegt wurde, ist da an den Wochenenden, ruft an, erzählt, was in der Schule passiert.
Auch wenn die Leute Soléa für ein eher schwaches Mädchen halten, so stimmt doch nichts davon. Soléa ist unglaublich standhaft, sorgt sich um ihre Freundin und hilft ihr weiter. Was würde ich bloß ohne all diese Menschen tun?

6. Livana. Auf dem Weg in den Wildpark, sie müssen über eine Stunde lang gehen, weil sie den Bus verpasst hatten. Die offene Jugendstation und die Geschlossene machen endlich mal einen Ausflug zusammen. Von Anfang an fand das Mädchen Livana interessant. Livana ist die, mit dem speziellen Essplan, klein und dünn, die beim Sport aussetzt und nicht sehr schnell gehen kann, weil sie sonst überanstrengt wird. Als das Mädchen in den Bus einstieg und sich in die Nähe von Bluette und Chenoa setzte, hätte sie nicht daran gedacht, dass sich noch jemand zu ihr setzen würde. Doch Livana ging zielstrebig den Gang hinunter, nahm neben ihr Platz und lächelte sie an. Später, als sie den zweiten Bus verpassten, ging sie immer noch neben ihr her. Den gesamten Weg bis zum Wildpark gingen die beiden neben einander her, das Mädchen wartete geduldig, sobald Livana hinten zurück blieb und Livana stellte keine dämlichen Fragen, wenn das Mädchen die Augen zusammen kniff, weil die Landschaft sie so sehr blendete. Schweigen konnte man mit ihr wunderbar und selbst wenn sie antwortete, waren es gut bedachte und aussagekräftige Antworten. Schweigend bei Livana musste das Mädchen sich nicht verstellen, sie konnte einfach sie selbst sein.

(Art und Überschriften sind aus der Kurzgeschichte Wie ich mir in der Besserungsanstalt von Detroit Gedanken über die Welt mache und mein Leben neu beginnt aus dem Buch 'bad girls' von Joyce Carol Oates. Die Geschichte ist nicht fertig, vielleicht wird es auch nie dazu kommen.)

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